Was sind Kata?

Was sind Kata …?

Ich habe auf diese Frage schon viele Antworten gehört. Da ich persönlich die meisten dieser Antworten unbefriedigend fand, möchte ich nun versuchen, meinen eigenen Standpunkt darzulegen.

Kata sind simple Trainingsinstrumente und sollen sinnvolle, effektive Bewegungsmuster schulen. Das und nur das ist ihre Aufgabe.

Kata sind nicht dazu da, vor einem Publikum zu dessen Unterhaltung vorgeführt zu werden. Kata sind Trainingsinstrumente.

Nicht mehr und nicht weniger.

Sie sind nicht geheimnisvoll, sie sind nicht mystisch.

Sie sind auch nicht durchdrungen von irgend einer kruden, nicht genau in Worte zu fassenden „Philosophie“. Kata sind ganz einfach dazu da, dem Anfänger die Möglichkeit zu geben, sich selbst und seine Bewegungen kennenzulernen. Und dann diese Bewegungen unter Anleitung eines erfahrenen Lehrers zu optimieren.

Kata vermitteln, das sei wiederholt, grundlegende biomechanische Prinzipien.

Dabei spielt es keine Rolle, ob in einer Kata nun Bodengriffe, Würfe oder Schlagbewegungen enthalten sind. Es geht immer darum (und nur darum), die Kernpunkte des jeweiligen Bewegungsprinzips redundant zu vermitteln. Konkrete Techniken gibt es in den Kata des Judo nicht.

Sehen wir uns Nage-no-Kata an, die „Form(en) des Werfens“.

Dort wurden die fünf Arten des Werfens zusammengefaßt. Für jede dieser Wurfarten wurden dann drei Beispiele eingefügt. Diese Beispiele sind beliebig austauschbar, da sie nichts weiter als Illustrationen sind. Diese Illustrationen sind, das sei wiederholt, keine „konkreten Techniken“.

In der Gruppe der Hüftwürfe geht es beispielsweise darum, dass der Anfänger lernen soll, was einen Hüftwurf ausmacht. Es geht um die Frage, wie und wann man die eigene Hüfte einzusetzen hat, wenn man einen Gegner mit einem Hüftwurf attackieren will. Es geht auch um die Frage, wann eine Hüftwurf-Attacke sinnvoll ist und wann nicht.

Dabei wiederum sind die Distanzen sehr wichtig. Wir können nicht immer bestimmen, wie nahe wir unserem Gegner kommen, denn dieser bewegt sich ja und steht nicht wie angenagelt an einem Ort. Folglich müssen wir uns anpassen. Das führt dann zu Erweiterungen und Varianten der grundlegenden Hüft- und Armbewegungen beim Ausführen eines Hüftwurfes.

Diese Varianten, die nichts weiter sind als kleine Anpassungen oder Erweiterungen der entscheidenden Hüftbewegung, werden nun mit verschiedenen Namen belegt, damit eine sinnvolle Kommunikation möglich ist. Vermittelt wird das alles durch das Üben der Kata, wobei dieses Üben niemals isoliert von anderen Trainingsinhalten geschehen darf.

Kata sind – ich wiederhole es – fast ausnahmslos Trainingsinstrumente für Anfänger.

Kata im Judo sind redundant.

So soll Nage-no-Kata beispielsweise den Anfänger befähigen, sich durch wiederholtes Üben nach und nach jenen „Feinschliff“ anzueignen, der ihn befähigt, im Randori zu erfühlen, wann sein Gegner sich eine Blöße gibt, die dann, um bei unserem Beispiel zu bleiben, für eine Wurfbewegung mit der Hüfte genutzt werden kann.

Ebenso verhält es sich mit Katame-no-Kata.

Dort werden Bodengriffe vermittelt, und zwar in Form prinzipieller Bewegungsmuster. Es geht dabei um die Frage, was denn überhaupt ein Haltegriff, ein Würgegriff oder ein Gelenkhebel ist, und welche grundlegenden Bewegungen den Anfänger befähigen, seinen Trainingspartner oder Gegner am Boden effektiv zu immobilisieren oder ihn am Hals oder den Gelenken zu attackieren.

Ich will das nicht weiter auswalzen. Ich denke, es dürfte klar sein, was ich meine.

Wer das Stadium des Anfängers hinter sich gelassen hat, kann aus den Kata dennoch weiterhin Nutzen ziehen. Dave Lowry verglich das Üben und Lernen im Budo einmal mit einer Wendeltreppe – wir drehen uns im Kreise und kommen immer und immer wieder an den gleichen Punkt, nur eben einige Stufen höher als zuvor…

Da es nicht oft genug gesagt werden kann, erlaube ich mir an dieser Stelle noch etwas mehr Redundanz und wiederhole, was die meisten nicht glauben wollen: In den Judo-Kata werden keine „konkreten Techniken“ geübt, die „später im Kampf genauso gemacht werden“.

Es werden stattdessen… ich wage es kaum zu sagen: Prinzipien geübt. Biomechanische Bewegungsmuster.

Das Üben dieser Bewegungsmuster programmiert unser motorisches System, das u.a. im Striatum verankert ist. Und genau diese Programmierung ermöglicht uns, auf die entsprechenden Bewegungsmuster zurückzugreifen, wenn wir kämpfen.

In der Kime-no-Kata geht es deshalb nicht darum, auf konkrete Angriffe mit der Faust oder mit einem Messer eine konkrete „Abwehr“ zu schulen. Niemand kann vorhersagen, ob ein Angreifer im Ernstfall nun gerade diesen konkreten Angriff vorträgt oder ob er etwas völlig Unerwartetes tut. Daher wäre es widersinnig, im Rahmen der Kata etwas anderes zu üben als generelle, situationsunabhängige Kampfprinzipien.

Diese generellen Kampfprinzipien lassen sich unterteilen in „anhaften, ableiten, umleiten, drücken, ziehen, spiegeln“ etc. Es geht in Kime-no-Kata darum, bspw. einen Messerangriff so „annehmen“ zu können, dass man schlicht und einfach eine Chance hat, zu überleben. Dazu wiederum muss man gelernt haben, am Gegner „anzuhaften“, also seine Bewegungsfreiheit sinnvoll einschränken zu können. Man muss gelernt haben, den gegnerischen Angriff sinnvoll umzuleiten, man muss wissen wie und warum man wann und wo zu ziehen oder zu drücken hat, und man muss wissen, was eigentlich gemeint ist, wenn man die Angriffsbewegungen des Gegners „spiegeln“ soll.

Es geht beim Üben der Kampfprinzipien in Kime-no-Kata nicht darum, zu lernen, wie man einen sportlichen Kontrahenten in einem reglementierten Wettkampf besiegen kann. Kano selbst schreibt über Kime-no-Kata:

Kime no Kata, on the other hand, is completely different; it is a combative kata and as such is sometimes referred as Shin Ken Shobu no Kata. Techniques of this type, using wooden imitation weapons, are based on life or death situations, and were often taught at jujutsu schools.

(Watson, „Judo Memoirs“, S. 79)

Ich frage mich, ob Kanos Worte heute beim Üben der Kime-no-Kata noch berücksichtigt werden…

Um nun zum Beispiel der Nage-no-Kata und der Gruppe der Hüftwürfe zurückzukehren:

Uki-Goshi ist ein Wurf-PRINZIP.

Es gibt Dutzende Möglichkeiten, Faßart und Eingangsschritte bei Uki-Goshi zu variieren und sich der Reichweite des Gegners, seiner Schrittarbeit und seiner Faßart anzupassen. Die entscheidende Hüftbewegung, die den Wurf ermöglicht, ist aber immer gleich. Das ist gemeint, wenn ich von einem Wurf-PRINZIP spreche.

Ein solches Kampf- und Bewegungsprinzip kann ohne großen Aufwand an verschiedene Situationen angepasst werden – durch „anhaften, ableiten, umleiten, drücken, ziehen, spiegeln“ etc.

Das gilt für den Bodenkampf ganz genauso.

„Juji-Gatame“ ist ein Hebel-PRINZIP, das (wie die Würfe auch) an verschiedene Situationen angepaßt werden kann. Es spielt überhaupt keine Rolle, ob ich unter meinem Gegner liege und ihn mit den Beinen umklammere oder auf ihm sitze. Sobald ich einen seiner Arme so blockieren kann, daß ich unter Zuhilfenahme meiner Beine und meines Beckens sein Ellbogengelenk gegen die natürliche Bewegungsrichtung überstrecke, ist es Juji-Gatame.

Ju-Do. „Ju“ bedeutet unter anderem „anpassungsfähig“.

Das gilt auch für die Atemi-Waza des Judo.

Es gibt im Judo eine Kata, die den für deutsche Zungen beinahe unaussprechlichen Namen „Seiryoku Zen’yo Kokumin Tai Iku no Kata“ trägt („Form der nationalen Leibeserziehung“, im Folgenden als SZKT bezeichnet). Diese Kata, 1924 entwickelt von Kano Jigoro, sollte mehrere Aufgaben erfüllen.

1.)
Es war eine Form, die dazu gedacht war, die grundlegenden Tritt- und Schlagbewegungen in einer Art „Schattenboxen“ üben zu können, und das auch ohne Partner, ohne Matte und ohne Judogi.

Dabei wurde, da diese Form für ANFÄNGER gedacht war, auf Deckungsarbeit u.ä. verzichtet. Es ging um die reine Schlag-MECHANIK.

Es ging darum, REDUNDANT (wie in japanischen Schulen üblich) und stur zu üben, wie man die Faust gerade nach vorn stößt, wie man prinzipiell eine Rückhand schlägt, wie man Fuß und Bein für niedrige Tritte zu bewegen hat, ohne das Gleichgewicht zu verlieren…

Es ging darum, Anfängern zu vermitteln, dass man beim Schlagen nicht unbedingt wie angewurzelt dastehen muss, sondern Gewicht hinter den Schlag bringen kann, indem man einen Schritt nach vorn macht …

Vor allem aber ging es darum, durch den Verzicht des Einsatzes des anderen Armes in den ersten beiden einarmigen Übungsfolgen das Körpergefühl bzgl. „Mitte“/Hüft-/Rumpfstabilität“ besonders zu schulen.

2.)
Die SZKT war außerdem als „Nationale Leibesübung“ gedacht (wie ja ihr Name schon sagt). Es ging also darum, eine Art leibesertüchtigender Übungsfolge (heute: „Workout“) zu schaffen, die einerseits die körperliche Leistungsfähigkeit möglichst aller Japaner erhalten und verbessern sollte, andererseits aber auch zum Üben der grundlegenden Schlag- und Trittmechanik gedacht war.

Ein ziemlich militärischer Ansatz, nebenbei… Die SZKT diente also auch und vor allem der Leibesertüchtigung im Sinne einer Verbesserung der Wehrfähigkeit. Man kann sie mit Fug und Recht – im Kontext ihrer Entstehung – als Wehrsport bezeichnen.

3.)
Die SZKT war für ANFÄNGER gedacht, mußte daher EINFACH und leicht nachzuvollziehen sein. Gemessen an diesen Anforderungen hat Kano meiner Meinung nach eine geradezu geniale Übungsfolge entwickelt.

4.)
Es ist unrealistisch, zu erwarten, die SZKT enthielte „die Atemi des Judo“.

Es ist unrealistisch, zu erwarten, alle konkreten Tritt- und Schlagtechniken des Judo seien samt Anwendungsbeispielen in dieser Kata enthalten.

Genauso unsinnig wäre es, zu erwarten, die Nage-no-Kata enthielte sämtliche Würfe des Judo oder die Katame-no-Kata enthielte sämtliche Bodentechniken des Judo… Es ist unsinnig, Kata nicht in ihrem historischen Kontext zu sehen, sondern zu erwarten, dass man als Judoka allein durch das Üben der „Unaussprechlichen“ jedem Boxer Konkurrenz machen könne.

Noch einmal: Die SZKT ist eine Anfänger-Übung, die eine hervorragende körperliche Ertüchtigung („Workout“) sinnvoll mit dem Üben der fundamentalen Bewegungsmechanik des Tretens und Schlagens verbindet. Aber sie ist eine Übung für Anfänger!

Wir vergessen oft, dass ANFÄNGER meist große Probleme haben, eine ordentliche Faust zu bilden oder ihren Schlagarm auf einer geraden Linie nach vorn zu stoßen. Jeder Boxtrainer kann davon ein Lied singen. Und damit Anfänger lernen, wie man den Schlagarm bei einem geraden Fauststoß und den Fuß und den Unterschenkel bei einem niedrigen Tritt zu bewegen hat, gibt es verschiedene Übungen in den verschiedenen Kampfsystemen.

Die SZKT im Judo ist eine solche Übung. Nicht mehr und nicht weniger.

Für alle anderen Kata des Judo gilt sinngemäß das Gleiche. Es sind grundlegende Übungen für Anfänger.

Man könnte es augenzwinkernd mit dem Segeln vergleichen…

Wer ein Segelschiff in Fahrt bringen will, der muss mit dem sogenannten „laufenden Gut“ umgehen können, also mit all den Leinen und Seilen, die es da so gibt.
Man muss nicht nur wissen, welche Leine welches Segel (bzw. welche Rahe) wie bewegt, man muss auch wissen, wann es nötig ist, eben diese Leine zu lösen oder festzuzurren.

Und dazu muß man sich mit den entsprechenden Knoten auskennen. Deshalb übt man anfangs, diese Knoten zu knüpfen und sie auch wieder zu lösen. Man muss einfach wissen, was ein „Palstek“ ist und wie ein „halber Schlag“ geknüpft wird.

Aber sobald man das verstanden und geübt hat, geht es um die ANWENDUNG dieser Knoten. Auf einem Segelschiff. Auf hoher See.

Es geht nicht darum, an Land und vor Publikum eine Meisterschaft abzuhalten, bei der eine Jury bewertet, wer den schönsten „Palstek“ knüpfen kann…