Ich denke seit einiger Zeit oft darüber nach, warum viele Kampfsportler so intensiv trainieren …
Was motiviert sie?
Ich selbst steige nun nach meiner OP langsam wieder ins Randori ein, und das ist hart, das ist anstrengend, das ist frustrierend, manchmal sogar deprimierend, denn etliche Bewegungsabläufe sind während der Rekonvaleszenz regelrecht eingerostet. Sie müssen in geduldiger, zäher Arbeit mit einem neuen Feinschliff versehen werden.
Im Randori gibt es keine Ausreden.
Entweder man kann den Gegner werfen oder man kann es nicht.
Erfahrung hilft dabei, wieder auf den vorherigen Stand des Könnens zurückzukehren und dann allmählich besser zu werden. Das aber bedeutet, daß vor allem die Feinmotorik eingeübt werden muß; ganz so, als würde man von vorn beginnen.
In gewisser Weise ist es ja auch so. Es ist ein zähes Ringen um jeden Millimeter. Es geht nur sehr langsam voran, und das ist beinahe schon bedrückend.
Warum tue ich mir das an?
Die Antwort auf diese Frage hat viel mit der ursprünglichen Motivation zu tun, die mich schon als Kind antrieb.
Nein, ich rede nicht (nur) davon, daß ich kämpfen können, mich verteidigen können wollte.
Ich meine eine viel ursprünglichere, noch sehr viel stärkere Motivation: FREUDE.
Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber auch nach nunmehr 44 Jahren des Trainings empfinde ich eine große, reine, ungetrübte FREUDE, sobald ich einen Fuß auf die Matte setze.
Ich habe in den vergangenen Monaten verstanden, daß diese Freude der eigentliche, der wahre Grund ist, warum ich das Training trotz aller Widrigkeiten niemals aufgegeben habe. Ich habe auch in Augenblicken tiefster Verzweiflung niemals ernsthaft erwogen, die Matte für immer zu verlassen.
Denn nichts, gar nichts auf dieser Welt hätte mir diese reine, tiefe, kristallklare FREUDE bescheren können, die mir das Judotraining gewährt.
Dieses Gefühl hat nichts mit Wettkampferfolgen zu tun, es ist auch nicht abhängig davon, welchen bunten oder schwarzen Gürtel man zuerkannt bekommt.
Es ist viel mehr als das.
Wettkampferfolge vergehen und werden zur bloßen Erinnerung, wenn die Jugend vergeht, wenn man älter wird und die Gesundheit nicht mehr so unverwüstlich ist, wie sie immer schien.
Gürtel sind dazu da, den Anfänger zu motivieren – irgendwann kommt der Zeitpunkt, an dem sie und das damit verbundene Prestige unwichtig werden.
Was bleibt, ist die FREUDE.
Dieses unvergleichliche, einzigartige Gefühl, das sich zuverlässig schon auf der Fahrt zum Training einstellt. Dieses Gefühl, wenn man die Matte betritt, die Trainingskameraden begrüßt, jene spannungsgeladene und dennoch fröhliche Atmosphäre wahrnimmt, die man nirgendwo sonst findet.
FREUDE …
Das ist der Moment, in dem man endlich verstanden hat, wie eine bestimmte Technik funktioniert. Es ist der Moment, in dem man tief in sich die Gewißheit verspürt, daß sich all das schweißtreibende, auslaugende Drillen gelohnt hat. Es ist aber auch der Moment, in dem man sich der nächsten Etappe, dem nächsten Ziel zuwendet. Freude… das ist die überwältigende Erkenntnis, daß das Judo niemals endet, daß es immer und immer wieder etwas Neues zu entdecken, zu verstehen, daß es noch mehr und immer noch mehr zu lernen gibt.
FREUDE …
Das ist der Augenblick, in dem man im Randori glasklar erkennt, gleichsam erfühlt, wie und wohin man sich zu bewegen hat. Es ist der AUgenblick, in dem alles wie von selbst geschieht. Es ist der Augenblick, den man nicht erzwingen kann.
Es ist die Stille am Ende des Trainings, die tiefe Zufriedenheit, die der Zwilling der Erschöpfung ist.
FREUDE …
Das ist die Gewißheit, all das schon morgen wieder erleben zu dürfen. Morgen und übermorgen und auch am Tag danach …
Dieses Gefühl steht am Anfang des Weges zu uns selbst. Es ist ein Weg, der lang und steinig und steil ist, auf dem man sich verirren kann und schon oft verirrt hat. Es ist jener Weg, den man nur allein gehen kann. Es ist der Weg, der mühseliger und anstrengender ist als alle anderen.
Dennoch geht man ihn weiter, immer weiter und weiter, denn jeder Schritt, und sei er noch so mühsam, noch so klein, noch so langsam, ist ein Schritt vorwärts, ein Schritt hin zu jener tiefen Freude, die mit Worten zu beschreiben unmöglich ist.
Was macht es da schon, daß es immer Menschen geben wird, denen unsere Schritte zu klein, unser Tempo zu gering, unser Weg der falsche zu sein scheint?