Wir alle begannen unser Training damit, den ersten Schritt zu tun.
Wir betraten zum ersten Mal das Dojo.
Wir betraten zum ersten Mal die Matte.
Wir lernten den ersten Schritt der ersten Fallübung, den ersten Schritt, der uns mit dem ersten Wurf vertraut machte …
Unsere Neugier war groß, und unsere Bereitschaft, auch den nächsten und übernächsten Schritt zu gehen, war grenzenlos.
Und so setzten wir wieder und wieder einen Fuß vor den anderen und begaben uns, ohne es recht zu merken, auf eine Reise, die unser ganzes Leben verändern sollte.
Wir brachen nicht allein zu dieser Reise auf.
Da gab es die Trainingsgruppe, die Freunde, die Lehrer …
Wir wußten und konnten noch nichts. Wir waren Anfänger.
Kinder.
Wir ließen uns leiten von denen, die älter waren und mehr Erfahrung hatten als wir.
Sie gaben die Richtung vor. Wir folgten ihnen.
Und so brachen wir auf, nicht ahnend, wohin uns dieser Weg einmal führen würde.
Wir wurden älter und waren noch immer unterwegs.
Inzwischen aber glaubten wir, das Ziel zu kennen.
Diese Reise, die wir so fröhlich angetreten hatten und die uns auf steinigen Pfaden über Berg und Tal führte, würde uns am Ende zu jenem Ziel leiten, das uns als so erstrebenswert, so wunderbar erschien, daß wir es ehrfurchtsvoll verklärten.
Wir würden den schwarzen Gürtel erhalten.
Als Lohn all unserer Mühen.
Dessen waren wir uns sicher.
Und dann, auch das wußten wir genau, wären wir am Ziel.
Eines Tages …
Also marschierten wir weiter.
Der Weg wurde steiniger, steiler, schmaler.
Nach und nach blieben einige unserer Trainingskameraden zurück. Sie kehrten um, oder sie wurden müde und konnten nicht mehr weitergehen. Sie fanden am Wegesrand Orte, an denen sie bleiben wollten. Und so manches Mal fragten wir uns, ob es nicht doch einfacher, bequemer, lohnender wäre, es ihnen gleichzutun.
Und so manches mal tat es bitter weh, sie zurücklassen zu müssen und weiterzugehen.
Doch irgend etwas in uns trieb uns an, weiterzuziehen.
Da war diese unendliche Neugier, die sich nicht zum Schweigen bringen ließ …
Wie würde es sein, dort am Ziel?
Wann würden wir es erreichen?
Wie würde sich das anfühlen?
Und je näher wir dem großen Ziel kamen, desto drängender trieb mich die Frage um, was denn werden würde, wenn das große Ziel erreicht war.
Eines Tages, beinahe unverhofft, war es dann soweit.
Wir waren angekommen.
Ein kleines Häuflein Unentwegter.
So viele waren mit uns zusammen aufgebrochen, und so wenige kamen nun an …
Aber wir … wir hatten es geschafft.
Wir waren so stolz auf uns selbst …!
Bis wir bemerkten, daß wir lediglich ein kleines, geradezu winziges Stück des Weges zurückgelegt hatten.
Im Grunde hatten wir nicht mehr als den ersten Schritt getan.
Das war eine schockierende Erkenntnis.
Wir wollten doch ankommen, das Ziel erreichen, uns ausruhen von all den Mühen …
Und nun sollten und mußten wir weiterziehen.
Weitergehen, und wieder über Stock und Stein, durch Täler und über kaum zu erklimmende Berge.
Es war zum verzweifeln.
Würde das denn niemals enden?
Wir gingen weiter und weiter, Schritt für Schritt. Manchmal war es leicht, manchmal so mühsam, daß wir am liebsten umgekehrt wären. Manchmal kamen wir auch vom Wege ab, verirrten uns, verrannten uns störrisch, weil wir glaubten, Abkürzungen gefunden zu haben. Nicht alle von uns fanden zurück auf den Weg.
Wir zogen weiter, wurden älter, erfahrener und meinten so manches Mal, den Weg zu kennen. Wir meinten manchmal sogar, genau zu wissen, daß der Weg, den wir gingen, der einzig richtige wäre …
Wir stritten mit denen, die uns auf dem Wege vorausgegangen waren und nun zurückkamen, um uns abzuholen.
Wir glaubten so manches mal, es besser zu wissen als sie …
Noch heute bewundere ich die Geduld, die unsere Lehrer mit uns hatten.
Wir gingen weiter, weil sie uns dazu anspornten.
Wir trafen auf unserem Weg Menschen, die uns ein Vorbild waren. Die wir bewunderten.
Aber wir trafen auch jene, die uns vorschreiben wollten, wohin wir zu gehen hatten. Die uns erklärten, wir könnten und dürften unseren Weg nur mit ihrer Erlaubnis fortsetzen.
Es waren wohl unsere Lehrer, die uns davor bewahrten, diesen Wegelagerern Glauben zu schenken …
Und so zogen wir weiter und weiter.
Und wieder blieben etliche zurück, müde geworden und unwillig.
Einige wenige aber gingen weiter.
Immer weiter.
Manchmal schauten wir zurück und erinnerten uns an besonders steinige, steile und mühsame Pfade und an so manchen Irrweg …
Und manchmal blieb auch einer unserer Lehrer zurück. Er hatte uns bis an jenen Punkt begleitet, über den hinaus er selbst nicht gehen konnte oder wollte … und von da an mußten wir dann ohne ihn weiterziehen.
Damals begann ich endlich zu verstehen, daß unsere Reise in den Kampfkünsten kein Ziel hat.
Es ist die Reise selbst, die zählt.
Es gibt nicht nur den einen Weg.
Es gibt unendlich viele. Wir können sie nicht alle erkunden, denn dazu reicht unsere Lebenszeit nicht aus.
Aber im Grunde ist selbst diese Erkenntnis unwichtig.
Es zählt nur, daß wir losgehen, unsere Reise antreten, daß wir den selbstgewählten Weg weitergehen und immer weiter, daß wir nicht aufgeben …
Es ist die Überwindung, wieder und wieder einen Fuß vor den anderen zu setzen, die uns Einsichten vermittelt, zu denen wir sonst wohl nie gelangt wären.
Es ist der Weg, der zählt.
Unser Weg.
Er macht uns zu dem, was wir sind.
Er läßt uns Härten ertragen, er läßt uns durchhalten, er formt uns, während wir ihn gehen.
Wir haben uns dafür entschieden, diese Reise anzutreten, als wir damals aufbrachen.
Wir wissen nicht, wohin sie uns führen wird.
Aber wir wissen, daß wir unser ganzes Leben lang unterwegs sein werden. Wir können und wollen nicht stehenbleiben. Unsere Neugier ist einfach zu groß …
Wir gehen weiter.
Und wir werden dabei einen Fuß vor den anderen setzen, wieder und wieder.
Genau so, wie wir es einst als Anfänger getan haben, als wir die ersten Schritte gingen …