Sambo

(Anmerkung:
Ich wurde darum gebeten, diesen Beitrag hier zu veröffentlichen.
Es handelt sich um einen Artikel, den ich vor etwa 8 Jahren schrieb und den ich nun überarbeitet und ergänzt habe
.)

Was ist das eigentlich – Sambo?

Sambo scheint das Schicksal vieler anderer Kampfkünste zu teilen – kaum jemand kennt noch seine tatsächliche Geschichte.
Mythen überlagern bis heute die Fakten, und manchmal könnte man beinahe glauben, daß nur wenig Interesse besteht, diese Mythen durch Fakten zu ersetzen …

Wenn heute von Sambo die Rede ist, dann versteht man darunter oftmals eine Art „russischen Ringkampf“. Man sieht das Sambo als eine kuriose Variante des Freistil-Ringens an, bei der die Sportler kurze Hosen, Ringerstiefel und feste Jacken tragen, die dem Judogi ähnlich sind.
Vielfach erschöpft sich darin auch schon das Wissen über Sambo.

Dabei würde es genügen, den Begriff Sambo zu übersetzen, um festzustellen, daß es sich mitnichten um eine Ringkampf-Sportart handelt. Der Begriff Sambo ist eine Abkürzung, eine Zusammenfassung der russischen Bezeichnung „Samozashchita Bez Oruzhiya“.
Dies bedeutet „Selbstverteidigung ohne Waffen“. Eine solche Selbstverteidigung aber – das wird wohl kaum jemand bestreiten können – muß wesentlich mehr umfassen als nur die Techniken des freien Ringkampfes.
Was also ist Sambo wirklich? Wie hat es ausgesehen, bevor man eine Ringkampf-Sportart daraus machte, und wer hat es überhaupt entwickelt?

In Werner Linds „Lexikon der Kampfkünste“ lesen wir dazu :

„Sambo ist ein Ringkampf, beeinflußt aus dem alten mongolischen Ringen.“

Ich glaube nicht, daß man Sambo auf den Begriff des Ringkampfs reduzieren kann.
Natürlich beinhaltet Sambo viele Ringkampftechniken, doch es enthält ebenso viele (im sportlichen Wettkampf nicht zugelassene) Tritt- und Schlagtechniken!

Weiter schreibt Werner Lind :

„Alle Völker der ehemaligen UdSSR üben sich im Sambo, auch wenn man in Grusinien von Tschidaoba, in Aserbaidshan von Pechlawan, in Moldawien von Trinta oder in Armenien von Kotch spricht.“

Auch das ist nicht richtig.
Sambo ist unter anderem eine Synthese aus Elementen der erwähnten Ringkampfkünste.
Die Ringkampfstile Mittelasiens sind allerdings nicht dasselbe wie Sambo.
Leider hat Lind es versäumt, in sein Lexikon relevante Informationen zur Geschichte des Sambo aufzunehmen …

Ich werde daher versuchen, in diesem Artikel die Geschichte des Sambo soweit darzustellen, wie es mir aufgrund der bescheidenen Quellenlage möglich ist.

Der Begründer des Sambo, ein russischer Geheimdienstoffizier namens Oschepkov, wird bei Lind ebenso wenig erwähnt wie sein bekanntester Schüler, ein Mann namens Charalampiev.
Auch über A.V. Spiridonov, der den Begriff Sambo erstmals prägte, finden wir in Linds Lexikon leider nichts. Auch den Namne Rubantschik sucht man vergebens …

Wie aber entstand nun jene Kampfkunst, die im Westen noch immer relativ unbekannt ist und um die sich Mythen und Legenden ranken?

Der erste ernstzunehmende Autor, der sich dieser Frage widmete, war Mikhail Nikolaevitch Lukashev. Im Jahr 1982 veröffentlichte er ein Buch, in dem er damit begann, einige der Mythen durch Fakten zu ersetzen. Im Jahr 1986 veröffentlichte Lukashev den zweiten Teil seines Werkes und löste damit in der UdSSR einen Skandal aus. Ungeschönt berichtete er, was er den Archiven entnommen hatte …
Unter dem Titel „Born in tsar’s prison to die in Stalin’s one“ findet man dazu im Netz einen sehr interessanten Artikel.

Die Entstehung des Sambo wurde absichtlich mystifiziert und verschleiert – aus gutem Grund, wie man sehen wird.

Der Begriff Sambo wurde zu Beginn des I. Weltkrieges von einem Mann namens V. A. Spiridonov geprägt. Er verstand darunter eine Art des militärischen Nahkampfes für die Soldaten der russischen Armee. Spiridonov darf demzufolge als Pionier des Sambo gelten.
Das Verdienst, Sambo zu einer sehr ernstzunehmenden, komplexen Kampfkunst gemacht zu haben, gebührt jedoch einem anderen Mann. Der eigentliche Gründer des Sambo ist nachweislich Vasily Sergejewitsch Oschepkov.

Oschepkov wurde im Dezember 1892 in Alexandrovski auf der Insel Sachalin geboren. (Die Insel Sachalin fiel an Japan, nachdem Russland 1905 den Krieg gegen Japan verloren hatte).
Dort besuchte er die Schule der russisch-orthodoxen Kirche, wo er auch die Möglichkeit hatte, Kodokan Judo zu trainieren. Diesem Training widmete er sich mit großem Eifer und wurde so erfolgreich, daß er als junger Mann ausgewählt wurde, am Training des Kodokan in Tokyo teilnehmen zu dürfen.
Die Archive des Kodokan verzeichnen, daß Oschepkov am 29. Oktober 1911 erstmals direkt am Training des Kodokan teilnahm.
Es mag heute erstaunlich anmuten, doch er wurde im Judo beinahe ebenso gründlich unterrichtet wie seine japanischen Mitschüler – eine absolute Ausnahme für die damalige, von Nationalismus geprägte Zeit.

Man muß berücksichtigen, daß die allgemeine Auffassung der japanischen Judo-Lehrer in jenen Tagen besagte, daß es für einen Ausländer unmöglich sei, Judo zu verstehen und ebenso hart zu trainieren wie Japaner.
Das Training war damals noch immer sehr von der Rivalität der Schulen des Jujutsu beeinflußt. Zwar hatte der Kodokan alle bisherigen Herausforderungskämpfe gegen andere Schulen gewonnen (außer gegen die Kämpfer der Fusen Ryu), doch noch immer mußten sich die Judoka den traditionellen Shin Ken Shobu (regellose Kämpfe, die manchmal bis zum Tod eines Kontrahenten gingen), den Herausforderungen anderer Schulen des Jujutsu stellen.

Wir lesen dazu bei Kano Jigoro:

„Es schien, als müsse der Kodôkan gegen ganz Japan antreten und daß wir eine auf alles gefaßte Gesinnung haben müßten.“

(Kano Jigoro in: Sakko, Heft Nr. 6, 1927)

Das Training war in vielen Dojo folglich härter als hart – es war grausam und völlig erbarmungslos.
Zudem war Oschepkov Russe – und damit sehr unbeliebt in Japan.
Der Krieg gegen Rußland lag noch nicht so lange zurück …

Oschepkov war, wie Lukashev schreibt (er bezieht sich dabei auf Aufzeichnungen verschiedener Lehrer des Kodokan, die mir selbst jedoch nicht vorliegen), also kein Trainingskamerad, mit dem man schonend umging, sondern ein verhaßter Ausländer – ein Feind.
Seine japanischen Trainingspartner machten sich laut Lukashev anfangs einen Spaß daraus, ihm wiederholt Rippen und Arme zu brechen. Diese harten Lektionen jedoch formten ihn zu einem Judoka mit hervorragenden technischen und kämpferischen Fähigkeiten.

In jenen Jahren vergab der Kodokan die Yudansha-Graduierungen auch an Japaner nur sehr sparsam, wie aus den Archiven des Kodokan hervorgeht.
Wieviel schwieriger muß es für Oschepkov gewesen sein, die japanischen Lehrer von seinem Können zu überzeugen!
Dennoch erhielt er im Jahre 1914 den Shodan (1. Dan) im Kodokan Judo, und zwar, so wird behauptet, aus den Händen von Kano Jigoro persönlich (letzteres halte ich allerdings für eine Legende).
Oschepkov war der erste Russe, der sich diese Graduierung erkämpfte. Im Jahre 1917 legte er im Kodokan sogar die Prüfung zum Nidan (2. Dan) ab.

Nach dem Ende des I. Weltkrieges verließ Oschepkov Japan und kehrte nach Rußland. Zurück. Im Jahre 1921 wurde er Offizier der Roten Armee, einige Jahre später trat er der Tscheka (Geheimdienst) bei und wurde in Japan und vor allem in China eingesetzt.
In dieser Zeit studierte er laut Lukashev verschiedene Stile der chinesischen Kampfkünste. So wird auch behauptet, daß er sich dem Bagua widmete. Belegen läßt sich das allerdings nicht.

1926 begab sich Oschepkov zurück nach Rußland, nach Wladiwostok, um dort den militärischen Nachwuchs im Judo auszubilden.
Von dort wurde er nach Nowosibirsk versetzt, wo er im Sibirischen Militärhauptquartier der Roten Armee als Spezialist für ostasiatische Sprachen arbeitete. Dort lehrte er auch seine Interpretation funktionaler, realistischer Selbstverteidigung. Er tat dies so erfolgreich, daß der Generalstab der Roten Armee auf ihn aufmerksam wurde.

Geheimdienstberichten zufolge bildete die japanische Armee ihre Offiziere und Soldaten in einer auf die Bedürfnisse des Militärs zugeschnittenen, sehr brutalen Art des Judo aus.
Dem gedachte die Rote Armee ein mindestens gleichwertiges Nahkampfsystem entgegenzusetzen.
Oschepkov, der verschiedene Vorführungen gab und dabei ernsthaft getestet wurde (die Messer und Bajonette der Angreifer waren scharf und wurden rücksichtslos eingesetzt in der Absicht, Oschepkov ernstlich zu verletzen, was durch Aktennotizen im Archiv der ehemaligen sowjetischen Streitkräfte belegt werden kann) verschaffte sich und seiner Kampfmethode schnell und sehr eindrucksvoll großen Respekt.
Der Brigadegeneral Boris Sergejewitsch Kalpus erteilte Oschepkov im Jahre 1927 den Auftrag, ein entsprechendes Nahkampfsystem für die Soldaten der Roten Armee auszuarbeiten.
Oschepkov übernahm dafür den von Spiridonov geprägten Begriff Sambo.

In dieser Zeit gab Oschepkov auch ein detailliertes, mit sehr exakten Zeichnungen versehenes Handbuch heraus. Darin ging er u.a. ausführlich auf den Bereich der Fußtritte und Kniestöße ein – etwas für die damalige Zeit unerhört Neues.
Oschepkov lehrte seine Schüler den absolut regellosen Freikampf. Da war es verständlich, daß der Bereich der Fußtritt- und Kniestoßtechniken ebenso wenig fehlen durfte wie der Bereich des Bodenkampfes. Um das Training verletzungsarm zu gestalten, übernahm Oschepkov etwas, das er sehr wahrscheinlich im Kodokan kennengelernt hatte, nämlich schützende, vorn offenen Boxhandschuhen ähnelnde Polster für Hände und Füße.

Oschepkov ging (zu Recht) davon aus, daß sich die Fähigkeiten der Selbstverteidigung beträchtlich steigern lassen, wenn sie auf einem stabilen, sportlichen Fundament beruhen. Sport an sich muß sich an Regeln orientieren und ist daher in seinen Möglichkeiten beschränkt. Doch mit regelkonformen sportlichen Wettkämpfen kann man dennoch nützliche Fähigkeiten trainieren wie z.B. Schnelligkeit, Ausdauer, schnelles Orientieren in rasch wechselnden Situationen und ökonomisches Verhalten auch unter enorm streßbelasteten Umständen.
All dies braucht man in einer realen Kampfsituation, wenn man überleben will.
Der sportliche Wettkampf nach Regeln darf allerdings nicht mehr sein als das – ein Hilfsmittel, um jene obenstehend genannten Fähigkeiten zu entwickeln und zu schulen.
Oschepkov entdeckte also die Erkenntnisse Kano Jigoros sozusagen noch einmal. Allerdings konnte er sich – da er von den Erfahrungen und Lehrmeinungen des Kodokan abgeschnitten war – ungehindert entfalten und das Sambo allein an den ihm wichtig erscheinenden Erfordernissen ausrichten.

Mikhail Nikolaevitch Lukashev schreibt dazu, daß das Kodokan Judo der frühen dreißiger Jahre begann, zu erstarren, seine Kampfkraft zu verlieren und hinter den rigiden Schranken der japanischen Gesellschaft zu versinken.
Das ist so nicht richtig, denn Lukaschev übersieht dabei, daß Kano in jener Zeit verzweifelt bemüht war, zu verhindern, daß der Kodokan vom japanischen Militär vereinnahmt und zu einer Militärakademie umfunktioniert wurde.

Da Oschepkov keine Verbindung mehr zum Kodokan hatte, blieb es nicht aus, daß er in Bezug auf das Kodokan Judo nicht auf dem laufenden war.
Daher ist es verständlich, daß er 1931 schreibt : „ … der Kodokan hat keine Abteilung, welche sich mit der Entwicklung körperlicher Übungen beschäftigt … es ist jedoch unmöglich, den menschlichen Organismus ohne spezielle körperliche Übungen zu entwickeln.“

Nun, Oschepkov irrte sich.
Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die großen Antrengungen, die Kano unternahm, um eine Form der „idealen Leibeserziehung“ zu finden.
Kano widmet diesem Thema viele umfangreiche Aufsätze, in denen er sich intensiv mit dem Nutzen vieler Sportarten ebenso auseinandersetzt wie mit dem Sinn und Zweck verschiedener Arten der Gymnastik.
(Nachzulesen ist das u.a. bei Andreas Niehaus „Leben und Werk Kano Jigoros“, 2003)

Kanos Überlegungen mündeten schließlich in der von ihm geschaffenen Kata „Seiryoku Zenyo Kokumin Tai Iku“. Der Name dieser Kata lautet übersetzt „Nationale Ertüchtigungs- (Übungs-) Form nach dem Prinzip der maximalen Wirkung bei minimalem Aufwand an Energie“.
Dazu empfehle ich den aus dem Jahr 1930 stammenden Aufsatz „Seiryoku Zen’yo Kokumin Tai Iku“ (Kano 1930, siehe dazu Andreas Niehaus „Leben und Werk des Kano Jigoro“, 2003, S. 300 ff.)

Zudem sei darauf verwiesen, daß sämtliche Kata des Kodokan Judo auch und vor allem der Entwicklung körperlicher Fähigkeiten dienen. Erst die durch die Kata zu erlangenden körperlichen Fähigkeiten nämlich befähigen den Ausübenden, sich allmählich auch den weiterführenden Inhalten jener Formen zuzuwenden.
Diese weiterführenden Inhalte wiederum sind nichts Abgehobenes, sondern befördern ganz konkret das Verständnis grundlegender biomechanischer Zusammenhänge. Dies wiederum wirkt sich direkt auf die Kampfkraft des Judoka aus …

Ich denke, Oschepkovs Vorwurf, der Kodokan habe sich nicht in ausreichendem Maß der Entwicklung körperlicher Übungen gewidmet, darf als widerlegt gelten.

Wenn Lukaschev (1986) sich Oschepkovs Meinung anschließt und behauptet, daß die japanischen Judo-Lehrer damals keine erwähnenswerten Methoden der körperlichen Ertüchtigung kannten, muß man ihm widersprechen.
Meiner Meinung nach irrt sich Lukaschev in diesem Punkt.
Es muß die Frage erlaubt sein, wieso das Training im Kodokan (und mehr noch in der Dai Nippon Butokukai) in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts als so überaus hart und anstrengend galt …
Die Fähigkeit, lange und harte Sparringskämpfe durchzustehen, mußte ja irgendwoher kommen. Ohne hartes körperliches Training und ohne spezielle, diesen Erfordernissen angemessene körperliche Ertüchtigung hätte kein Judoka die notwendigen Fähigkeiten und Fertigkeiten entwickeln können.

Oschepkov wiederum konnte zu seiner Zeit mit Sicherheit den Wert der verschiedenen Kata des Kodokan als physische Übung nicht erkennen. Er war wohl zu fixiert auf das, was in Europa unter dem Begriff der „Körperertüchtigung“ oder auch „Gymnastik“ verstanden wurde.
Lukaschev verfällt 1986 leider dem selben Irrtum.

Oschepkov entfernte aus dem, was er in Japan gelernt hatte, alle ihm „antiquiert“ erscheinenden Formen und Bewegungen. Das ist verständlich, denn er hatte keinerlei Bezug z.B. zu den Koryu Bugei, auf denen viele Bewegungen des Kodokan Judo beruhen.
Es muß davon ausgegangen werden, daß Oschepkov bspw. keine Kenntnis hatte von Kanos Bemühungen, auf der Grundlage der Koryu Bugei auch Waffentechniken ins Kodokan Jûdô einfließen zu lassen. Das 1935 erstmals der Öffentlichkeit vorgestellte Kodokan Bojutsu konnte Oschepkov natürlich nicht kennen …
Es darf wohl als gesichert angenommen werden, daß Oschepkov auch nichts von der 1927 gegründeten Kobudo Kenkyukai wußte.
(Diese Abteilung war der Erforschung und Bewahrung der Koryu Bugei gewidmet, und die auf diese Weise gewonnenen Erkenntnisse bereicherten sehr wahrscheinlich auch die Lehrmethoden des Kodokan. Darauf genauer einzugehen würde aber den Rahmen dieses Beitrages sprengen.)

Oschepkov ging mit eigenen Methoden konsequent seinen eigenen Weg der Kampfkunst, seine Wurzeln allerdings sind nachweisbar im Kodokan Judo zu suchen.
Oschepkov erweiterte das Spektrum der Techniken des Sambo erkennbar um etliche Techniken aus den mittelasiatischen Kampfkünsten und folgte damit eigentlich dem Grundsatz Kano Jigoros, daß eine praktikable Kampfkunst niemals als geschlossenes System angesehen werden darf.

Lukashev schreibt nun in seinem Beitrag, daß Oschepkov in den Bodenkampf des Sambo die Beinhebel eingeführt habe, die ja im Judo nicht enthalten gewesen seien. Lukashev meint, damit die Genialität Oschepkovs eindeutig zu belegen.
Leider irrt er an dieser Stelle.
Beinhebel waren im Bodenkampf des Judo von Anfang an enthalten und wurden erst 1914 im Rahmen einer Neufassung des Reglements in Wettkämpfen ausdrücklich verboten. Da Oschepkov zu dieser Zeit noch in Japan lebte und dort trainierte, müßte er im Grunde mit Beinhebeln recht vertraut gewesen sein …

Meiner Meinung nach verwechselt Lukashev den heutigen sportlichen, sehr reglementierten Wettkampf im Judo mit dem, was Oschepkov in Japan trainierte.
Zudem waren im Bodenkampf des Kodokan Judo schon immer all jene Techniken enthalten, die praktikabel und nützlich waren. Oschepkov kann also unmöglich den Bodenkampf des Judo „verbessert“ haben, indem er Beinhebel einführte …
Es ist Oschepkov jedoch hoch anzurechnen, daß er jede Technik, ganz gleich, aus welchem Kampfsystem sie auch stammte, immer und ausschließlich unter dem Aspekt der Anwendbarkeit im regellosen Ernstfall sah. Er trug zusamen, was er für die besten und wirksamsten Kampfmethoden Europas und Mittelasiens hielt und schuf daraus eine sehr ernstzunehmende Kampfkunst.
Sein Sambo, basierend auf dem Kodokan Judo, wurde zu Beginn der dreißiger Jahre erweitert um die Erkenntnisse des amerikanischen und europäischen Freistil-Ringens, des englischen und französischen Boxens, um die besten Griffe des aserbaidshanischen Zorhana-Ringens, des armenischen Kotch, des grusinischen Tschidaoba, des turkmenischen Guljesch, des moldawischen Drinha, des usbekischen Kurasch und wahrscheinlich um die Techniken verschiedener chinesischer Systeme.

Sambo entwickelte sich zu einer (technisch) umfassenden, sehr effektiven Kampfkunst.
Bedauerlicherweise aber wollte oder konnte Oschepkov mit dem Aspekt der über die bloße Technik hinausreichenden Selbst-Erkenntnis und Selbst-Erziehung, wie sie bspw. von Kano Jigoro im Judo propagiert wurde, nicht das geringste anfangen.
Das Sambo von V. S. Oschepkov enthält keinerlei in diese Richtung zielenden Lehrinhalte.

Oschepkov leitete ab 1932 das Institut für Körpererziehung in Moskau. Seine wichtigsten Schüler dort waren Kuzovlev, Sidorov, Galkovskii, Skolnikov, Vasiliev und natürlich A. Charalampiev. Letzterer unterrichtete in Leningrad und Moskau und sollte bald eine unrühmlich Rolle spielen.

Im Jahre 1937 rollte die erste große Terrorwelle über die Sowjetunion hinweg. Stalin, der sich von Feinden umgeben glaubte, ordnete radikale „Säuberungen“ an. Hunderttausende fielen diesem sinnlosen Terror zum Opfer.
Auch V. S. Oschepkov geriet in das Visier des NKWD (= sowjetischer Geheimdienst). Er war verdächtig, weil er in den zwanziger Jahren im Ausland gewesen war – in Japan, in China …
Er wurde verhaftet und sollte gestehen, eine Verschwörung gegen den Sozialismus und gegen den Genossen Stalin angezettelt zu haben.
Er sollte gestehen, ein Agent der japanischen Imperialisten zu sein.

Es existiert noch das Fragment einer Akte des NKWD über seine Verhaftung. (USSR. NKWD. Moskauer Gebietsgericht. Fall Nr. 2641 Oschepkov, Verhaftung nach Artikel 58 Absatz 6 des Russischen Strafgesetzbuches).
Dort ist zu lesen, daß „… der Bürger Oschepkov, Vasily Sergejewitsch, als japanischer Agent entlarvt wurde.“

In der Nacht vom 1. zum 2. Oktober 1937 wurde er vom NKWD verhaftet und kam zehn Tage später unter noch immer ungeklärten Umständen ums Leben.
Als offizielle Todesursache wurde Angina pectoris angegeben.
Seine Schüler taten daraufhin, was sie tun mußten – sie distanzierten sich öffentlich und vehement von ihm. Damit erkauften sie sich ihr Leben, und es wäre anmaßend, sie deswegen verurteilen zu wollen.
Der Name Oschepkov wurde nunmehr aus allen das Sambo betreffenden Veröffentlichungen und Verlautbarungen entfernt. Fotografien wurden retuschiert, um Oschepkovs Gesicht darauf unkenntlich zu machen oder ganz verschwinden zu lassen.

Sambo war damals außerhalb der Sowjetunion vollkommen unbekannt, daher war diese Geschichtsfälschung ohne weiteres möglich – und sie war erfolgreich.
Oschepkovs Schüler Charalampiev wurde als der Begründer des Sambo ausgegeben. Es zeugt nicht eben von Charakter, daß Charalampiev sich darauf einließ und in den folgenden Jahren kräftig am eigenen Mythos strickte.
Die japanischen Wurzeln des Sambo wurden mit dem Namen Oschepkov getilgt und gerieten schnell in Vergessenheit. Es war den Russen unmöglich, zugeben zu können, daß sie die Grundzüge des Sambo aus dem Kodokan Judo entlehnt hatten. Der Sozialismus konnte alles viel besser als der Kapitalismus – das mußte auch für die Kampfkunst gelten.
Sambo galt nun in der offiiellen Propaganda als „ur-sowjetisches“, zu Ehren des großen Stalin geschaffenes Kampfsystem, entwickelt von aufrechten sowjetischen Kommunisten mit dem Genossen Charalampiev an der Spitze. Grundlage des Sambo waren nunmehr offiziell die „alten russischen Ringkampfkünste“.

1938 wurden die ersten All-Sowjetischen Meisterschaften im Sambo ausgetragen – in Moskau.
Dort fand gleichzeitig auch eine Versammlung der wichtigsten Aktiven und Lehrer des Sambo statt. Auf dieser Versammlung durfte Charalampiev mit dem Segen der Partei ungerührt verkünden, man habe soeben die Schaffung eines neuen, sowjetischen Kampfsystems namens Sambo miterleben dürfen, dessen Schöpfer er selbst sei. Es spielte dabei keine Rolle, daß in dieser Versammlung Leute saßen, die gemeinsam mit Oschepkov jahrzehntelang an den Grundlagen des Sambo gearbeitet hatten und gewiß über bessere Kenntnisse dieses Kampfsystems verfügten als Charalampiev.
Die Partei hatte beschlossen, was als Wahrheit zu gelten hatte, und es wäre glatter Selbstmord gewesen, dagegen aufzubegehren.

Gewiß hatte Charalampiev Verdienste um das Sambo aufzuweisen – das macht es ja bis in unsere Tage so schwer, die damals verkündeten Lügen als solche zu erkennen.
Selbst das noch von Oschepkov persönlich verfaßte Handbuch des Sambo wurde schamlos Charalampiev zugesprochen!

Doch es gab und gibt einige Ungereimtheiten, die dem aufmerksamen Beobachter die damaligen Lügen offensichtlich werden lassen.
So wurde behauptet, daß Charalampiev zu Beginn der zwanziger Jahre durch Mittelasien reiste, um die dortigen Kampfkünste zu studieren und in das Sambo zu integrieren.
Charalampiev selbst behauptete stets, er habe von N. Podvoiski, einem Helden der Oktoberrevolution, im Jahre 1922 den Auftrag dazu erhalten. Diese Geschichte wurde 1983 in der Sowjetunion sogar verfilmt! (Deutscher Titel „Der Unbesiegbare“).

Allerdings ist diese Geschichte vollkommen erfunden. Charalampiev war 1922 gerade mal 15 Jahre alt.
Es will nun doch etwas unglaubwürdig erscheinen, daß er in diesem zarten Alter bereits im Auftrage des heldenhaften Genossen Podvoiski durch den wilden Kaukasus reiste und allüberall Kämpfe bestritt, die er noch dazu allesamt gewann!
Dennoch wurde aus einem Mythos eine scheinbar unangreifbare historische Tatsache.

Es ist sehr bedauerlich, daß die unbestrittenen kämpferischen Fähigkeiten Charalampievs seine menschlichen Qualitäten offenbar weit überstiegen.
Auch nachdem der Name Oschepkovs Anfang der siebziger Jahre reingewaschen und rehabilitiert worden war, blieb Charalampiev eisern dabei, der alleinige Begründer des Sambo zu sein.

Viele Anhänger des Sambo können sich bis heute einfach nicht vorstellen, daß eine solch große und grobe Fälschung der tatsächlichen Geschichte möglich gewesen sein soll. Verbissen halten sie darum am makellosen Bild ihres Idols Charalampiev fest und schimpfen jeden einen Lügner, der dieses Bild korrigieren will.
Nur langsam setzt sich in Rußland die Erkenntnis durch, daß die Geschichte des Sambo wohl neu geschrieben werden muß …