Kampfkunst wird heutzutage als eine Sammlung von Techniken gesehen, die man einstudieren muss um sie bei Bedarf abzurufen und in einer bestimmten Situation einzusetzen. Kampf wird so quasi zu einem Frage-Antwort-Spiel: Wenn der Angreifer Technik a) macht, kann ich mit Technik c), d), x) oder y) kontern.
Ein solches System baut auf bewusster Anwendung von Bewegungen auf, das heißt mein Bewusstsein entscheidet sich für eine Technik und gibt dem Körper Anweisungen die Bewegungen auszuführen. Ohne jetzt weiter ins Detail gehen zu wollen kann man sagen, dass es sich um eine kortikale (von der Großhirnrinde ausgehende) Art der Bewegung handelt.
Ich muss also immer bewusst entscheiden welche Technik ich machen will, da eine Bewegung an eine konkrete Anwendung in meinem Gehirn gekoppelt ist („Wenn er den Arm so und so hält kann ich die und die Technik machen“). Selbst wenn die Bewegung einer „Technik“ so lange verinnerlicht wurde, dass sie unterbewusst (im Striatum) abgelegt wurde, wird sie nur abgerufen, wenn bestimmte, konkrete, Vorgaben eintreffen (z. B. „Arm in der und der Position“).
Unterbewusste Zentren
Bewegungen über abstrakte Bilder (Qi) und emotionale Verknüpfungen zu lernen setzt auf einer ganz anderen Ebene an. Ich aktiviere unterbewusste Zentren wie den Nucleus accumbens, das limbische System, die Formatio reticularis (und dadurch das vegetative Nervensystem), das ARAS und schaffe die Verbindung zu den Basalganglien und damit der Motorik.
Sicher wird eine Bewegung immer noch kortikal gesteuert (ich „denke“ diese Bilder ja bewusst), aber sie ist abstrakt abgelegt. Bilder sind die Grundlage für Prinzipien der Bewegung (z.B. „fallenlassen des Zentrums“ und „Aufhängen der Wirbelsäule“). Dadurch dass ich dem Körper also nur gewisse „Rahmenbedingungen“ gebe, lasse ich ihn den Rest so machen, wie es für ihn am effektivsten ist.
Dies erfordert einen entspannten, lockeren, Körper mit einer gesunden Statik. Ich muss über die Bilder lernen Verspannungen zu lösen und zu große Muskelspannungen zu reduzieren. Eine Methode, die weitläufig auch im Westen angewandt wird (z.B. Feldenkrais- und Alexandermethode).
Die Gesundheitsübungen der chinesischen System (die „stehende Säule“ und die zig anderen Qigongsysteme) machen sich genau dieses zu nutze. Die Übungen sind uralt (weit über 2000 Jahre) und entstammen den schamanistischen Traditionen Zentralasiens aus denen der Daoismus (und daraus auch später der Zen-Buddhismus) hervorgegangen ist. Auch die verschiedenen Yogatraditionen haben dort ihren gemeinsamen Ursprung, was man an den recht ähnlichen Bildern sehen kann.
Abstrakte Bilder
Abstrakte Bilder sind nun die Grundlage für einen entspannten, funktionalen, Körper und einen entspannten Geist. Über diese Bilder leite ich Bewegungen ein, die grundlegende Prinzipien haben (Zentrumsrotation und –translation, Ausrichtung der Wirbelsäule, Koordinierung der Atmung mit der Bewegung).
Die Erweiterung dieser Bilder führt dann zu grundlegenden Anwendungen im Kampf. Ich lerne über diese Bilder „anhaften“, „drücken“, „ziehen“, „umleiten“, „füllen“, „leeren“, „explodieren“ und noch vieles mehr. Diese abstrakten Bilder (ich „drücke“, „ziehe“ etc. nicht den Gegner sondern ein Bild im Gegner) kann ich durch alle möglichen Bewegungen zur Anwendung bringen.
Jetzt kommen wir zu dem, was die Kampfkünste erst einmal unterscheidet: Die grundlegenden Komplexbewegungen. Jedes System hat ein gewisses Grundrepertoire an Bewegungen und Handhaltungen, die auf die unterschiedlichsten Arten gelehrt werden (z.B. Handhaltungen im Bagua, „Fäuste/Formen“ im Xingyi und die unterschiedlichsten Formen, Kata, der Kampfkünste). Im Karate hat Itosu Anko diese grundlegenden Bewegungsformen in seinem Kihon zusammengefasst, indem er sie aus alten Übungsformen extrahierte.
Zusätzlich lehren die Kampfkünste noch die Prinzipien des Werfens, Würgens und Greifens, die jedoch eng mit der Lehre der Anatomie des menschlichen Körpers verbunden sind. Wenn man einmal verstanden hat wie der menschliche Körper aufgebaut ist und wie man Gelenke blockiert, dann weiß man auch, wie man den Körper verletzen kann. Die Bilder verbinden dann dieses Wissen zur Anwendung.
Ich werfe zum Beispiel einen Gegner nicht bewusst mit einem Wurf, sondern mein Körper realisiert, dass das Zentrum meines Gegners gestört ist und ich ihn werfen kann. Durch die Bilder realisiert mein Körper (unterbewusst) die Kraftketten im gegnerischen Körper, stört, bzw. stellt ihn so, dass ich einen „O-Soto-Gari“ machen kann bei dem ich ihm das Genick breche. Reagiert mein Gegner auf meine Bewegungen, wechselt mein Körper instinktiv zu einem Uki-goshi (um bei der Judoterminologie zu bleiben, ist ja schließlich auch ein Judo-Blog). Das Bild in meinem Kopf bleibt jedoch gleich, sogar die Komplexbewegung ändert sich nur unwesentlich.
Wie sind also Bilder und Prinzipien verknüpft?
Bilder bilden die Grundlage für Bewegungsprinzipien und einen „funktionalen“ Körper. Eine kleine Erweiterung dieser Bilder führt zu den grundlegenden Kampfprinzipien. Zusätzlich gibt es das Wissen um die Anatomie des menschlichen Körpers und seine Funktionsweise. Daraus lassen sich die Prinzipien des Schlagens, Tretens, Werfens und Greifens ableiten, wobei jeder Schlag und Tritt auch ein Wurf oder Griff werden kann.
Kombiniert werden diese Bilder und Prinzipien mit grundlegenden Bewegungsmustern.
Ein von mir mehr als geachteter Bagua und Yiquan Lehrer formulierte es sinngemäß mal so:
Prinzipien sind wie Samen und Techniken wie Bäume. Ich kann einen ganzen Wald in meiner Faust halten, wenn ich über Prinzipen lehre…
Dieser Beitrag kann natürlich nur ein grober Überblick über das Lehrsystem mit Bildern und Prinzipien sein. Vieles in dem Text bleibt den Lesern wahrscheinlich unklar oder zu abstrakt, bzw. „esoterisch“. Die genaue Umsetzung dieses Konzeptes kann man jedoch nur „auf der Matte“ zeigen, da man die Effekte, die die Bilder auslösen, spüren muss, um sie zu verstehen.
Ein großer Teil dieser Arbeit findet, wie man sich denken kann, im Kopf statt. Kampfkunst ist somit für mich „Denken in entspannter Bewegung“. Ein solches Arbeiten mit dem Körper und Geist wirkt sich auch auf andere Teile des Lebens aus, da die oben erwähnten, unterbewussten, Hirnzentren vielfältige Aufgaben haben und gerade die emotionale Verknüpfung stark an unserem Bewusstsein mitwirkt.
Die Bilder, die in der Kampfkunst genutzt werden, werden so auch in verschiedenen Meditationslinien genutzt (sie kommen ja aus den schamanistischen Traditionen) und können somit auch psychische Wachstums- und Heilungsvorgänge beeinflussen. Ein Vorgang namens LTP (long-term-potentation) sorgt dafür, dass im Gehirn Verschaltungen geschaffen und verstärkt werden, wenn man sie oft und kontinuierlich nutzt. Das Arbeiten über Bilder verstärkt eben genau diese Verschaltungen im Gehirn zwischen den verschiedenen emotionalen Zentren und dem Körper. Mein Bewusstsein bekommt quasi über die Bilderarbeit mit dem Körper eine stärkere Verbindung zu meinem Unterbewusstsein. Dieser verstärkte Zugang wirkt sich jedoch auch abseits des Kampfkunsttrainings auf uns aus und beeinflusst uns.
Der Weg zum innersten Kern unseres Seins führt nicht an unseren tiefsten Ängste und Emotionen vorbei, sondern mitten in sie hinein und hindurch.
Kampfkunst konfrontiert uns mit unseren Ängsten, mit unserer Wut und kann uns lehren sie mit Liebe anzunehmen und aufzulösen. Die Bilder und die Körperarbeit können uns dabei helfen, während reines „Techniktraining“ niemals diese Verknüpfungen herstellen kann.
Kampf ist immer auch Angst und der Umgang damit, daher ist der Kampf ein guter Katalysator, um zu lernen mit unseren alltäglichen Ängsten umzugehen.
Gewalt und der Umgang mit Gewalt resultiert aus unserer Angst, ebenso unsere Wut. Die Bilder geben uns die Möglichkeit uns das alles anzugucken, anzunehmen und loszulassen, in allen Bereichen unseres Lebens.
Training über Bilder und Prinzipien kommt somit dem ganzen Menschen zu Gute, es schafft einen Zugang zu unserem „Wahren-Selbst“.