Es war eine lange, mühsame Arbeit, deutsche Judoka davon zu überzeugen, daß Kanos Kampfsystem sehr effektive Tritt- und Schlagtechniken enthält. Diese Überzeugungsarbeit ist noch immer nicht abgeschlossen, denn nach wie vor fällt es vielen Judoka schwer, zu glauben, dass es im Judo derartig „unfaire“ Techniken geben soll.
Dennoch setzt auch hierzulande allmählich ein Umdenken ein, und das begrüße ich ausdrücklich.
Aber ist es wirklich damit getan, die Tritt- und Schlagtechniken nun als Bestandteil des Judo zu akzeptieren?
Genügt es, diese Tritt- und Schlagtechniken (vereinfacht als Atemi-Waza bezeichnet) in die Kata des Judo zu verbannen und sie dort in angedeuteter Form zu praktizieren …?
Ich glaube nicht, daß das sinnvoll ist.
Die Kata des Judo werden heute oftmals so interpretiert, daß man aus dem Üben dieser Formen keinerlei konkreten Nutzen für den Kampf mehr ziehen kann. Mit dem Begriff „Kata“ bezeichne ich hier, um Missverständnissen vorzubeugen, die sogenannten offiziellen Kata des Kodokan.
Drei dieser Formen enthalten deutlich erkennbare Faustschläge und Fußtritte, die von Tori ausgeführt werden. Bedauerlicherweise macht sich kaum jemand die Mühe, über den rein mechanischen und vorgegebenen Ablauf dieser Formen hinaus die Tritt- und Schlagprinzipien des Judo sowie deren Wirkungsweise zu ergründen.
Es ist daher alles andere als nutzbringend, die Tritt- und Schlagtechniken des Judo vor allem in Form von Kata zu üben. Erfahrungsgemäß führt das Üben der Atemi-Waza in Form von Kata, so wie es heutzutage praktiziert wird, nicht dazu, anwendungsbereites Wissen und Können zu erwerben. Wäre es anders, dann müssten all jene Judoka, die fleißig und regelmäßig Kime-no-Kata, Goshinjutsu-no-Kata (besser wäre hier die Bezeichnung Goshinjutsu-no-Ho) oder die Seiryoku Zen’yo Kokumin Tai Iku no Kata trainieren oder diese Formen sogar bei Kata-Meisterschaften demonstrieren, wahre Experten im Boxen und Treten sein.
Sind sie das?
Will man die Wurftechniken des Judo erfolgreich im Randori oder im Wettkampf anwenden, muß an sie ebenso fleißig wie permanent üben und dabei das reichhaltige Repertoire der entsprechenden Trainingsmethoden gründlich ausschöpfen. Das wird niemand bestreiten, denke ich.
Gleiches gilt für die Techniken des Bodenkampfes. Wer erfolgreich würgen oder hebeln will, der muß sich gründlich und intensiv damit auseinandersetzen.
Vor allem aber muß man Würfe und Bodengriffe am Partner trainieren. Immer und immer wieder. Dabei kann und soll der Widerstand dieses Partners variieren.
Das alles ist bekannt und wird, so denke ich, auch überall so gehandhabt.
Nachdem sich nun langsam die Erkenntnis durchzusetzen scheint, daß Judo eben doch mehr beinhaltet als Würfe und Bodengriffe, stellt sich natürlich die Frage nach einer sinnvollen und effektiven Trainingsmethodik für die Tritt- und Schlagtechniken des Judo.
Wie trainiert man Tritte und Schläge?
Oder wird diese Frage gar nicht gestellt? Wird überhaupt Wert darauf gelegt, die Tritt- und Schlagtechniken des Judo zu praktizieren? Sieht man diese Techniken als bloße Gymnastik ohne jede Ernstfall-Relevanz? Oder wird Wert darauf gelegt, diese Techniken anwendungsbereit zu trainieren?
Falls man Interesse daran hat, die Tritt- und Schlagtechniken des Judo anwendungsbereit zu trainieren, kommt man nicht umhin, sich über entsprechende Trainingsinhalte und über eine geeignete Trainingsmethodik Gedanken zu machen.
Dazu allerdings – ich wiederhole es – muss man sich fragen, mit welchem Ziel man die Tritt- und Schlagtechniken des Judo trainieren will. Geht es darum, Abwechslung in den Trainingsalltag zu bringen und Dinge zu üben, für die man nicht unbedingt einen Partner benötigt? Oder geht es eher darum, Judo als effektives Kampfsystem zu trainieren, um die eigene Wehrhaftigkeit signifikant zu verbessern? Von der Beantwortung dieser Frage hängt die Art ab, in der man sich den Atemi-Waza des Judo nähert.
Ich persönlich halte nichts davon, Tritt- und Schlagtechniken als eine Art „Gymnastik“ anzusehen und entsprechend zu üben. Ich persönlich halte diese Art des Trainings für verschwendete Zeit.
Tritt- und Schlagtechniken wurden entwickelt, um echte Gegner in ernsthaften Auseinandersetzungen schnell und effektiv zu überwinden. Und genau so sollte man sie meiner Meinung nach auch trainieren. Man muss das nicht tun … aber wenn man schon übt, zu schlagen und zu treten, dann kann man es auch richtig machen, finde ich.
Eine Sache, die es wert ist, getan zu werden, ist es auch wert, dass man sie richtig tut.
Manche Judoka haben eine unüberwindliche Abneigung gegenüber der Idee, Tritte und Schläge seien schlicht und einfach für den nichtsportlichen Ernstfall konzipiert. Es widerstrebt diesen Judoka, sich auch nur vorzustellen, einen anderen Menschen zu schlagen und zu treten. Ich respektiere diese Einstellung, auch wenn ich sie nicht verstehe und nicht teilen kann. Ich frage mich nur, warum jemand, der Gewalt in Form von Tritten und Schlägen ausdrücklich ablehnt, solche Techniken dann trainieren möchte. Beispielsweise in den Kata des Judo.
Ein Tritt ist ein Tritt und ein Schlag ist ein Schlag …
Ich habe, um es deutlich zu sagen, nicht die Absicht, die Atemi-Waza des Judo hier nun detailliert zu erläutern.
Die Frage, wie man die Faust und den Arm zu halten und zu führen hat, um effektiv schlagen zu können und wie sich Fuß und Knie zu bewegen haben, wenn man wirksame Fußtritte ausführen will, kann nur im Training beantwortet werden.
Mir geht es hier erst einmal nur darum, zum Nachdenken über die Einstellung anzuregen, mit der man sich den Tritt- und Schlagtechniken des Judo nähern sollte.
Trainiert man Tritte und Schläge nicht mit der dafür unbedingt notwendigen Einstellung, imitiert man diese Bewegungen lediglich. Wenn man aber solche Bewegungen nur imitiert, ohne die Absicht, sie jemals wirklich effektiv anwenden zu können… Wozu dann diese Mühe?
Ich persönlich, das sei wiederholt, betrachte die Tritt- und Schlagtechniken des Judo als einen immens wichtigen Bestandteil des Trainings.
Und schon 1915 schrieb Sakujiro Yokoyama:
„To know how and where to strike or kick is not sufficient for applying atemiwaza effectively as is the case in other tricks.
You must first learn to move about freely and unrestrainedly by means of the practice of other branches of jûdô in order to be able to apply these tricks.“
„Even if you were able to hit any part of your enemy’s body with your hand or foot, it would not be effective, unless you are skilful in striking, poking, and kicking.
Not only, therefore, you must learn where and how to hit and practice it, but also you must try to acquire skill in striking, poking and kicking by constant practice.“
„But atemiwaza unlike other tricks are very dangerous, and beginners should not attempt the practice of them, before they have developed their muscles and learned how to move about freely by the practice of nagewaza and katamewaza.“
„They may, however practice these tricks by hitting the wall in their houses or some other objects with their fists, elbows, knees, or feet.
Even beginners can gain benefit by indulding in this practice.“
(Yokoyama Sakujiro „Jûdô Kyohan“, 1915, S. 293)
Ich glaube, daß Sakujiro Yokoyama das Training der Tritt- und Schlagtechniken des Judo in Übereinstimmung mit Kano erläutert und beschrieben hat.
Eine von Kanos Sicht des Judo abweichende Veröffentlichung hätte zu Beginn des 20. Jahrhunderts sehr wahrscheinlich eine scharfe Replik des Gründers zur Folge gehabt …
Ich gehe deshalb davon aus, das Sakujiro Yokoyama hier kurz und knapp die allgemein bekannte Praxis des Trainings der Atemi-Waza beschreibt und sie, eben wiel sie zu seiner Zeit allgemein bekannt war, nicht ausführlicher erläutert.
Sakujiro Yokoyama weist dabei auf die Bedeutung der Tritt- und Schlagtechniken des Judo hin und erklärt nicht nur, wie man sie zu üben hat, sondern auch, wann man sie ins Training integrieren sollte.
In unserem Training wird das so praktiziert. Regelmäßig. Aber wir tun noch sehr viel mehr…
Ich halte es für unerläßlich, die Wirkung der Tritt- und Schlagtechniken am Partner zu erproben. Und zwar im Vollkontakt.
Ehe nun jemand empört meint, dies sei verantwortungslos, möchte ich daran erinnern, dass Boxer, Muay-Thai-Kämpfer und Kyokushinkai-Karateka diese Art des Vollkontakt-Trainings als vollkommen selbstverständlich ansehen. Warum also sollte so etwas im Judotraining nicht ebenfalls möglich sein? Sind Judoka zerbrechlicher als Boxer …?
Selbstverständlich muss man ein solches Vollkontakt-Training mit der nötigen Vorsicht und Rücksichtnahme gestalten. Diese Vorsicht und diese Rücksichtnahme dürfen allerdings nicht so groß werden, daß ein effektives Training unmöglich wird. Ich persönlich halte beispielsweise nichts von Handschützern und anderen Protektoren, vom unverzichtbaren Zahnschutz einmal abgesehen.
Wer wirklich lernen will, effektiv zu treten und zu schlagen, der sollte das ohne Hand- und Körperschützer tun. Der dabei aktive Judoka lernt, wie und wohin er zu schlagen hat und wie sich seine Faust oder sein Ellbogen zu bewegen haben, damit er die angestrebte Wirkung erzielt. Der dabei passive Judoka lernt, dass man von Körpertreffern nicht stirbt und schult das, was man im Boxen „Nehmerqualitäten“ nennt.
Um Mißverständnissen vorzubeugen – diese Art des Trainings ist erwachsenen Judoka vorbehalten. Und auch dort nur denen, die genau diese Dinge trainieren wollen.
Es hat zudem überhaupt keinen Sinn, Anfänger in diese Art des Trainings einzubeziehen.
Bevor es zum harten Sparring mit blanken Fäusten kommt, muss ein solides Technikrepertoire verfügbar sein. Dieses schließt neben der Deckungsarbeit auch ein sinnvolles und natürliches Bewegen ein (Tai Sabaki).
Deckungs- und Angriffsarbeit muss in Form von Drills erarbeitet werden, die mehr und mehr in ein freies Improvisieren übergehen. Das Üben der Tritt- und Schlagtechniken des Judo unterscheidet sich da nicht vom Üben der Wurftechniken. So, wie sich der Judo-Anfänger an die Würfe herantastet und so, wie er dabei seine Fallschule perfektioniert (was eine sehr mühselige, harte Sache sein kann), so tastet sich der fortgeschrittene Judoka an die Atemi-Waza heran, dabei seine Deckungs- und Schrittarbeit stetig verbessernd.
Diese Art des Übens ist sehr wichtig und kann beinahe beliebig variiert werden, bis hin zum harten Sparring. Wer will, kann sich dabei ja an dem Judoka Uchida Ryōhei orientieren …
„Uchida Ryōhei was a Judo 5th dan who wrote a book entitled ‚Judo‘ in 1903 for which Kano provided a foreword.“
„Uchida Ryōhei was all about the martial application of jūdō and writes about this in the book. He actually argues that jūjutsu in the Edo period was basically totally unrealistic and he wanted to instill real combat techniques into jūdō to make it effective on the battlefield.“
(Siehe dazu auch Wikipedia – Ryōhei Uchida sowie Sherdog-Forum)
Uchida Ryohei beschreibt in seinem Buch sehr drastische Trainingsmethoden, die er für sehr geeignet hält, effektives Treten und Schlagen zu erlernen.
Da Kano persönlich für dieses im Jahr 1903 erschienene Buch ein Vorwort verfaßte, gehe ich davon aus, daß Kano mit Uchidas Darstellung des Judo einverstanden war.
Das finde ich bemerkenswert, denn Uchida beschrieb, wie ich schon anmerkte, einige sehr drastische Methoden für das realitätsorientierte Training der Atemi-Waza.
Man muss nicht so weit wie Uchida gehen, wenn man das nicht will – aber wenn man schon die Tritt- und Schlagtechniken des Judo ins eigene Training integriert, dann sollte man sie auch so üben, dass man daraus einen ganz konkreten Nutzen für den Kampf ziehen kann.
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