Der folgende Beitrag wurde von Dennis Brötzmann verfaßt, der für unseren Blog als Gastautor schreibt:
Als ich begann danach zu fragen, was ein „Game“ ist, war die häufigste Antwort, die ich bekam, dass es eine Kombination aus den Techniken ist, die ich am Meisten bevorzuge.
Ich war mit dieser Antwort nicht zufrieden, hatte eher das Gefühl, dass da noch mehr ist.
Würde das Game aus Techniken bestehen, die ich bevorzuge, dann bevorzuge ich irgendwann alle Techniken, da ich irgendwann alle Techniken geübt habe, somit irgendwann beherrsche und anschließend wäre mein Game einfach ein Konglomerat aus sehr vielen Techniken, die aufgrund meines spezifischen Körpertyps mehr oder weniger effizient sind.
Das ist ein bisschen zu einfach und schlichtweg nicht wahr, wenn man sich mal den Charakter unter dem Gi/Rashguard o.ä. anschaut.
Was genau bedeutet „Game“?
Wir sprechen von Guard-Game, Top-Game, Bottom-Game usw. Damit ist gemeint, dass ein Kämpfer aus einer bestimmten Position oder auch Lage eine Vielzahl an Waffen, Verteidigungen und vor allem Schlachtplänen entwickelt hat. Dieser Kämpfer ist aufgrund jener Entwicklung aus genau dieser Position sehr viel gefährlicher als in einer anderen, die er nicht so hoch entwickelt hat.
Oder anders: Ein Boxer ist besser im Boxen als in Handgelenk hebeln. Mag sein, dass er Handgelenkhebel kann aber er ist vorallem Boxer und hier gefährlicher, als irgendwo anders.
Nach einiger Zeit wird ein Kämpfer mehrere Positionen finden, in denen er sich komfortabel fühlt, diese wieder entwickeln und damit vollständiger kämpfen können, anstatt immer wieder in die eine, von ihm favorisierte Position zurück kehren zu müssen. Wir haben nun also jemanden, der sich in vielen Positionen sicher fühlt und aus ihnen gefährlich agieren kann.
Ist das nun das Game?
Angenommen, man würde zwei Menschen mit nahezu den selben körperlichen Attributen nehmen, ihnen exakt die selben Techniken zur Verfügung stellen, würde ihr Game gleich aussehen?
Nein.
Der eine würde möglicherweise aggressiver kämpfen, mehr Druck machen und nach Submissions suchen wie ein Bluthund, und der andere würde vielleicht defensiv kämpfen und plötzlich wie aus dem Nichts einen Armhebel anbringen und der Kampf wäre vorbei, obwohl vorher der Eindruck herrschte, dass der defensive Kämpfer unterliegen wird. Der körperliche Aspekt spielt hier also nicht die Hauptrolle (wie auch sonst eher selten). Was ist es also?
Ist irgendwem schon einmal aufgefallen, dass man mit jemandem rollt und diese Person lernt man dann später durch ein Gespräch näher kennen und entdeckt an ihr die selben charakterlichen Eigenschaften, die sie vorher während des Rollens gezeigt hat?
Jemand, der über sein Leben viel Kontrolle haben möchte, wird in der Regel dazu neigen, viel Kontrolle im Kampf zu suchen und anbringen zu wollen. Jemand, der eher kreativ und unbedarft ist, wird sich ebenso auf der Matte ausdrücken. Jemand, der eher ängstlicher Natur ist, wird diese Angst auf der Matte spüren. Jemand, der ein großes Ego hat, dem wird das Ego auf der Matte begegnen und ihm Beine stellen, bis man einen Weg gefunden hat, sich dagegen zu wehren.
Dieser Ausdruck des Charakters ist nicht bewusst. Sicherlich, man mag sich vornehmen: „Heute kämpfe ich mal aggressiver!“ aber sobald der Verstand leer wird und man nur noch reagieren kann, wird das Selbst übernehmen. Dies trifft besonders zu, wenn man während des Kampfes in arge Bedrängnis gerät.
Das Selbst ist also unausweichlich da.
Das kann jetzt als „esoterisch“ abgewertet werden aber letztlich ist man aus einem bestimmten Grund in eine Kampfsportschule eingetreten und wenn es nur mit dem Wunsch des Gewichtsverlust einher ging.
Auch das hat mit dem persönlichen „Selbst-Bild“ zu tun.
Persönlich denke ich, dass es sehr wenige Gelegenheiten im Leben gibt, bei denen sich das eigene Selbst so offen und nackt zeigt wie auf der Matte. Wer diese Reflexion beobachtet, dem wird vieles über sich selbst klar. Weiter lässt sich das Beobachtete auch dort nutzen, wo man es zuerst gefunden hat…
Ist mir bewusst, dass ich einen impulsiven, extrovertierten Charakter habe, dann lohnt es sich eventuell, meine Art des Kämpfens danach zu ordnen. Ich werde mich hier sicher am Wohlsten fühlen und damit effizienter sein.
Bin ich ein eher zurückhaltender, introvertierter Mensch, ist es sehr gut möglich, dass ich aus genau diesen Eigenschaften meinen Erfolg ziehen kann. Steht diese Selbstreflexion im Fokus, dann werden sich Techniken, Prinzipien und schließlich auch körperliche Attribute dem Selbst unterordnen und gezielter in eine Richtung gelenkt werden. Unter einer bestimmten eigenen Leitlinie (nämlich der Selbsterforschung) zu kämpfen, ist immer aufregender, als ziellos herum zu dümpeln, ohne zu wissen, was man eigentlich wie machen soll.
Gerade diese Ziellosigkeit führt oft zu einem Frankenstein-Game. So hat man beispielsweise den Sweep des großen starken Dicken und den Armbar der kleinen, flexiblen Techikerin. Beides passt nicht gut zu einander.
Um alles sinnvoll zusammen fügen zu können, braucht man SEINEN EIGENEN Armbar und SEINEN EIGENEN Sweep.
So erhält man also die eigens modifizierten Waffen, um damit praktisch unter einem ehrlichen General in die Schlacht zu ziehen, der sich der Schwächen und Stärken des eigenen Heers bewusst ist. So erhält man aber auch die Werkzeuge für eine seelische Reise, die, wenn wir ehrlich sind, sonst in der Regel sehr planlos verläuft.
Wenn ihr das nächste Mal also die Matte betretet, beobachtet mal, wer mit euch kommt.
Von ihm könnt ihr was lernen.